Die Hexen vom Wyrmwald by Bernsteinschmiede | World Anvil Manuscripts | World Anvil

Das Universum blinzelt.

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Das letzte Stück legt er in einer Art trabenden Schlendern zurück, welches ein unaufmerksamer Beobachter vielleicht mit Rennen verwechseln könnte. Gäbe es irgendwo Beobachter. Was nicht der Fall ist.

Die Ansammlung von Schlaglöchern und von Steinbrocken, welche sich ohne viel Hoffnung gegen das Vorrücken der Vegetation zu behaupten versuchen, kriecht hier besonders nahe am Waldrand entlang. Ardagh sieht sich über die Schulter und lauscht. Dann verschwindet er bis zur Hutkrempe zwischen Brennesseln und Huflattich. Kurz darauf verschwindet auch der Hut zwischen herabhängenden Fichtenzweigen.

Im kühlen Dunkel fühlt er sich gleich etwas besser. Seine Finger tasten nach den Amuletten unter der Robe, finden die richtige Schnur und fischen den kleinen Beutel hervor, der den Ring enthält. Er steckt den kleinen Silberreif mit dem eingeritzten Pentagramm an und verstaut das inzwischen verhedderte Nest der restlichen Lederbänder wieder unterm Mantel. Ohne den Ring fühlt er sich immer irgendwie nackt.
Teufel auch. Was soll er jetzt machen? Er hat sich diese Gegend ausgesucht, weil sie so weit von der Zivilisation entfernt ist, und vor allem von Rom. Aber der Nachteil daran, so stellt sich jetzt heraus, ist, dass er kein Ausweichdorf hat in dem er einkaufen kann.
Ob er es riskieren kann ein paar Tage verstreichen zu lassen und sich dann klammheimlich mit dem Nötigsten einzudecken? Der Gedanke gefällt ihm ganz und gar nicht. Zu riskant. Und auch gar nicht sein Stil.

Wahrscheinlich, sollte er den anderern Bescheid geben. Auch das noch.
Seine Füße tragen ihn von ganz allein über Wurzeln und Senken, während seine Gedanken arbeiten.
Er hätte besser erst zu Hause damit begonnen sich über die Zukunft zu sorgen und seine Aufmerksamkeit der Gegenwart gewidmet.
Die scheeläugige Alte steht dort vorn. Sie trägt eine Kraxe auf dem Rücken, die etwa zur Hälfte mit Reisig gefüllt ist und hat die krumme Hand an einen Baum gelehnt um zu verschnaufen.
Ardagh bleibt stehen. Hat sie - oh, natürlich hat sie ihn gesehen.

Du bist ein Jäger, erinnert er sich. Jäger sind im Wald unterwegs. Zumindest am Waldrand. Du hast ebensoviel Grund hier zu sein wie sie. Tipp dir an den Hut, schenk ihr ein freches Grinsen und marschier an ihr vorbei.
Unter ihrem braun-und beige gemusterten Kopftuch hervor folgt ihm der misstrauische Blick, den er bereits gewohnt ist. Aber kommt es ihm nur so vor, oder liegt ein triumphierendes Glitzern unter der Furcht?
Eine zittrige Hand zeigt auf ihn.
"Aha!"
Eigentlich müsste sie krächzen oder so, aber ihre Stimme ist klar, schneidend und kühl.
Ardagh geht weiter. Ihr Finger folgt ihm. Wandert zu seinen Füßen hinunter.

"Ich wusste es! Mit diesen Schuhen bist du nie und nimmer die Straße herunter gekommen! Du trägst sie seit vorletztem Jahr!"
Zur Hölle mit aufmerksamen alten Vetteln.

"Ich war immer der Meinung, dass es jedem selbst überlassen ist, wann er welches paar Schuhe trägt. Verehrteste.", erklärt er spöttisch. Es ist viel zu dick aufgetragen, aber manchmal kann man die einfachen Leute damit verwirren.
Aber offensichtlich nicht die alte Vettel.

"Ha! Oh nein! Du haust im Wyrmwald! Im Wyrmwald!"

Ardagh versucht sie nicht aus dem Augenwinkel zu beobachten, als er an ihr vorbei geht. Eine wie sie würde das bestimmt bemerken. Stattdessen schüttelt er den Kopf und lacht trocken.

"Niemand wohnt im Wyrmwald." Er erinnert sich an eine sehr nützliche Phrase und fügt sie hinzu. "Das weiß jeder."

"Und ich weiß, was du bist! Ich weiß es genau!"
Sie macht das Zeichen gegen den bösen Blick, indem sie die Faust ballt und den Kleinen und den Zeigefinger ausstreckt. Mit der anderen Hand umklammert sie das Kreuz, das zu solchen Gelegenheiten immer um den Hals älterer Frauen aufzutauchen scheint.

"Hexe!", zischt sie, "Ich werde es allen sagen! Der Baron wird davon erfahren!"

Ardaghs Füße bewegen sich wie durch zähen Schlamm, als er seinen angefangenen Schritt zu Ende tut. Er bleibt stehen, atmet lang und langsam aus, bevor er sich umdreht.
Das Glitzern in ihren Augen verschwindet, als er die Alte ansieht. Seine Stimme ist vollkommen ausdruckslos: "Ich wünschte, du hättest das nicht gesagt."

Wärst du doch zu Hause geblieben und hättest Wanderern nachspioniert. Hättest du dir nicht so viele Gedanken um die Schuhe anderer Leute gemacht.
Und wärst du so klug gewesen den Mund zu halten.

Er macht eine eigene Handbewegung. Sie enthält weder kompliziertes Gefuchtel noch ist es notwendig die Finger in irgendwelche interessanten Positionen zu bringen. Er winkt einfach nur in ihre Richtung, als würde er etwas verschieben.

Das Universum blinzelt.

Die Kraxe kippt langsam zur Seite und bleibt auf dem Waldboden liegen.
Eine struppige, graue Wühlmaus schnuppert an dem Träger. Das Tier sieht sich um. Die Schnurrhaare zittern vor Verwirrung. Innerhalb weniger Augenblicke erinnern ihre Wühlmausinstinkte sie daran, was jetzt zu tun ist. Sie putzt sich die Ohren mit den Pfötchen, huscht über verstreute Zweige und verschwindet zwischen Blaubeersträuchern.

Ein Bewusstsein passt sich der Form an in der es steckt.

Einer Wühlmaus wären komplizierte Erinnerungen an menschliche Dinge nur im Weg.

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